Stunden, Tage, Wochen oder Jahre

Ein Schleier macht sich breit. Vorher Chamois-Weiß verunreinigt sich die Papieroberfläche sekündlich. Ein grau-schwarzer Fleckenteppich wird immer sichtbarer. Ich hole das Papier frustriert aus dem N 120 SUPER(1). Auch die Zweite Packung TURA-Excellent(2) mit unbekannten Ablaufdatum werde ich nicht verwenden können. Im Laufe des siebten Abends in Leipzig-Hirschfeld bleibt mir nur noch einen ORWO NP22(3) zu entwickeln.
Mittwoch, der 25. März 2020 – nach dem Einlegen eines Sensia 100(4) mache ich am Abend noch zwei Fotos. Der Blick aus den Fenster Richtung Westen – der fortschreitende Sonnenuntergang löst die Schatten immer mehr in der Fläche auf – lässt die gegenüberliegende Abtei nur noch erahnen. Als ich zehn Minuten später den Auslöser Richtung Osten auf die Hersvelder Straße richte, überwiegt schon das Licht der Straßenlaternen.

Heute stimmt die Belichtungszeit am Magnifax(5): 2 Minuten – bei weniger Dauerbelichtung keine Reaktion auf dem überlagerten Papier. Ich überschlage im Kopf die Zeit und komme zu dem Schluss, einen ganzen Film heute ausbelichten zu können.
Samstag, der 22. August 2020 – ich öffne die von der Drogerie DM abgeholte Foto-Versandtasche und halte einen Diafilm-Streifen in der Hand. Gegen das Licht gehalten, sind zwei rötlich schimmernde Abbilder jenes Abends Ende März zu erkennen. Zu diesem Zeitpunkt erscheinen sie mir weit weg, die zwei Monate, an denen ich tagsüber das Hinterland fotografierte und die Abende, die ich in der Dunkelkammer verbrachte.
Stunden, Tage, Wochen oder Jahre
Gesamtedition 35 Fotografien a 10cm x 15cm
S/W Echt-Fotos auf TURA-Barytpapier
April/Mai 2020 Edition: 1
Die vorliegenden Schwarz-Weiß-Fotografien entstanden, bedingt durch die „15 km Regelung“(6), in den Monaten April bis Mai 2020 im Umkreis der Hirschfelder Flur: Wolfshain, Zweenfurth, Althen-Kleinpösna, Alobrechtshain, Großpösna, Threna. Dies sind nur einige Namen von Ortschaften, die meinen temporären Lebensmittelpunkt im erwähnten Frühjahr bestimmten. Fast täglich – meist unter der Woche um die Mittags- und Nachmittagszeit – fotografierte ich die umliegenden Dörfer, Straßen und Felder. Rückblickend eine Arbeit, die mir Sinn und Ordnung versprach. Ich ordnete am Abend, die vom Tag mit Licht gefüllten Negativstreifen in der Dunkelkammer. Fast meditativ, möglich durch die ungestörte Situation, wurde daraus eine Obsession. Eine Sucht des Anreicherns durch entwickelte Bilder, die nur ich sah, die ich lange mit niemanden teilen konnte. Das teilweise 30 Jahre alte ORWO-Filmmaterial, mit dem ich überwiegend fotografierte, war bereits ermüdet.
Abbilder – Grau und Flau – sammelten sich an. Ein Zustand, der zeitlich nicht mehr greifbar war. Aus Sekunden wurden Stunden, auf dem belichteten Fotomaterial hätten aus Tagen auch Jahre werden können. Nur ein engster eingeweihter Kreis von Freunden besuchte mich hier. Sie gaben mir kurz gewonnene Eindrücke gewohnter Normalität, die ich ebenfalls in Bildern festhielt, und die mich unbeschadet diese Monate durchleben ließen.
(1) Papierentwickler, um ein Bild eines belichteten Filmes auf Fotopapier sichtbar zu machen. Bei N 120 SUPER handelt es sich um eine Schwarz-Weiß-Papierentwickler der Marke ORWO.
(2) Barytpapier – Unterlage für lichtempfindliche Emulsionen – der Firma TURA, 1901 in Wernigerode/Harz gründetet, stellte vorwiegend hochwertige Fotopapiere her
(3) Schwarz-Weiß Fotofilm der Marke ORWO (Original Wolfen) – Monopol der Filmherstellung in der DDR. Der NP 20 ist ein Kleinbildfilm (24x36mm) in SL (Schnellade) Kassette mit je 12 Aufnahmen und einer Filmempfindlichkeit 20 DIN, 80 ASA
(4) Sensia 100 (Fujichrome) ist ein 35mm Dia-Kleinbildfilm der Marke Fuji Photo Film Co., seine Produktion wurde 2012 eingestellt.
(5) Der Magnifax type 74210 ist ein Vergrößerungsgerät, welches durch optische Projektion Vergrößerungen auf Papierbilder aus Negativen oder auch Diapositiven ermöglicht. Der Magnifax wurde von der Firma Meopta hergestellt, die bis in die 1970er Jahre sich zu einem der bedeutendsten Hersteller von Vergrößerungsgeräten und Kinoprojektoren entwickelte.
(6) In Sachsen galten vom 22.März bis 3. Mai 2020 Ausgangsbeschränkungen, welche das Verlassen des eigenen Wohnortes im Umkreis von 15 Kilometern ohne triftigen Grund untersagten.
Heft zur Ausstellung bei yumpu ansehen:
Website: Christoph Liepach
Instagram: christoph.aurora.liepach